Trauer – Schuld – Versöhnung Heil werden im Kreis der Frauen

Vortrag anlässlich des 3. Eurasischen Kongresses für Systemaufstellungen Novsibirsk, Mai 2014

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,

Gregory Bateson, einer der Väter des systemischen Denkens, stellte sich einst die Frage: „Was verbindet einen Krebs mit einer Hummer? Und die Orchidee mit der Primel? Und alle diese mit mir? Und mich wiederum mit ihnen?“ Bei dieser Frage beschäftigte ihn das Muster, das allem Leben zugrunde liegt und es in allen seinen vielen Ausformungen verbindet.

Batesons Sätze sind mir in den Sinn gekommen, als ich begann, diesen Vortrag vorzubereiten, und ich habe sie für mich abgewandelt, um mich zu fragen: Was verbindet mich mit Frauen in Russland, in Sibirien, in Asien? In Ländern, und Kulturen, die ich nie gesehen habe, deren Sprache ich nicht spreche, deren Schrift ich nicht einmal lese? Und was verbindet sie wiederum mit mir?

Was habe ich gemein mit ihnen, wenn ich kaum ihre Geschichte kenne und auch nicht ihren heutigen Alltag?

Wenn ich mich dennoch getraut habe, mich hierher zu setzen und zum Thema „Trauer, Schuld und Versöhnung im Kreise der Frauen“ zu sprechen, so deshalb, weil ich meinen Blick auf jene Erfahrungen richten möchte, die wir Frauen alle kennen, ungeachtet unserer Herkunft, unserer Lebensumstände oder unserer sozialen Schicht. Es sind jene Erfahrungen, die eben mit unserer Weiblichkeit zu tun haben. Denn genau das, was eigentlich unser Frau-Sein ausmacht, hat für uns seit jeher nicht nur Glück sondern auch viel Leid verursacht. Es sind Erfahrungen rund um Sexualität, Fruchtbarkeit, Schwangerschaft und Geburt, die für unzählige Frauen über viele Generationen traumatisch waren und noch immer sind. Erlebnisse, die der Lösung oder vielmehr der Er-Lösung bedürfen.

Und gerade die systemische Aufstellungsarbeit in ihren vielen Anwendungsformen erscheint mir da ein wunderbares Mittel, das hilft, Wunden verheilen zu lassen und Frauen mit ihrem Leben wieder auszusöhnen.

Um diese Gedanken zu veranschaulichen, möchte ich Ihnen gerne einige konkrete Geschichten von Frauen erzählen, denen ich in meiner Arbeit begegnet bin. Ich habe mir erlaubt, reale Erlebnisse zu schildern und auch die Gedanken und Gefühle der betroffenen Menschen in Worte zu fassen, so dass wir den äußeren und inneren Dynamiken wie einem roten Faden folgen können, als Anregung für unsere therapeutische Arbeit mit anderen Menschen und auch für manche Bereiche unseres eigenen Lebens, die vielleicht darauf warten, liebevoll betrachtet und angenommen zu werden.

Die meiste Zeit wird hier von Frauen die Rede sein, doch das heißt nicht, dass die Männer dabei keine Rolle spielen. Ganz im Gegenteil! Sie sind die Väter, Brüder, Ehemänner, Söhne, Freunde, Kollegen oder vielleicht Therapeuten der Frauen, um die es hier geht. Das heißt, sie sind in jedem Fall voll von dem betroffen, was in deren Leben geschieht – im Schlimmen wie im Guten. Das heißt, ich möchte auch Sie, liebe Zuhörer, bitten, die Männer stets mitzudenken, denn wie wir sehen werden, haben sie viel zu tun, sowohl mit dem Schmerz der Frauen wie auch mit ihrem Glück.

Ein Traum zerbricht

Die erste Geschichte, die ich Ihnen also erzählen möchte, ist die eines jung verheirateten Paares, das voll Freude sein erstes Kind erwartete. Die ersten Untersuchungen verliefen normal, wie die meisten Eltern begann auch dieses Paar, bereits Pläne zu schmieden, sich das Leben als Familie auszumalen und alles für die Ankunft des Babys vorzubereiten. Doch dann, im fünften Schwangerschaftsmonat, stellten die Ärzte plötzlich schwere Missbildungen am Kind fest und rieten den Eltern zur Abtreibung, da ihr Sohn mit Sicherheit schwer behindert zur Welt kommen und die ersten Wochen nicht überleben würde.

Für die junge Frau und ihren Mann war es ein herzzerreißender innerer Kampf, der sich über einige Tage zog, doch dann drängte die Zeit und sie mussten entscheiden. Das letzte Wort hatte natürlich die Mutter und damit auch die letzte Verantwortung für diesen Schritt.

Sie, die sich so sehr auf dieses Kind gefreut hatte, die es bereits spürte, wie es sich in ihr regte und bewegte, die vom ersten Augenblick der Schwangerschaft an mit diesem kleinen Wesen in Verbindung gewesen war, sie sollte jetzt den Ärzten den Auftrag geben, ihr Kind zu töten und es ihr aus dem Leib zu holen. Der Widerspruch der Gefühle und Gedanken war geradezu verrückt.

Nach langem Ringen entschieden sich die Eltern doch zur Abtreibung, vor allem mit dem Gedanken, ihrem Kind ein Leben mit so viel Leiden zu ersparen. Der Eingriff erfolgte unter Vollnarkose. Als die Frau erwachte, hatte sie kein Kinderbettchen in ihrem Zimmer und ihren Sohn nicht im Arm, ja sie wusste nicht einmal, was mit ihm geschehen war, hatte ihn nicht zu Gesicht bekommen, ihn weder berühren noch sich verabschieden können.

Die Tage danach erlebte sie wie in Watte gepackt. Ihr Körper musste sich erst langsam wieder zurechtfinden, denn jede Zelle war noch auf Schwangerschaft ausgerichtet. Auch ihr Denken musste erst begreifen, was da passiert war, und plausible Erklärungen finden, denn von einem Moment zum anderen waren alle Pläne und Erwartungen auf den Kopf gestellt, ihr Leben plötzlich ohne Sinn und Richtung.

Die Gefühle schwankten zwischen Betäubung und tiefem Schmerz und Verlust, dazwischen immer wieder die quälenden Fragen: „Hätte ich doch anders entscheiden sollen? Hätte unser Sohn vielleicht doch gelebt? Was habe ich falsch gemacht?“

Auch in der Beziehung zu ihrem Mann war dieser Einschnitt deutlich spürbar. Obwohl er die Entscheidung klar mitgetragen hatte, standen für die Frau doch viele unausgesprochene Zweifel zwischen ihnen: „Er hat sich so sehr dieses Kind gewünscht und ich habe es ihm nicht gegeben. Liebt er mich noch wie früher? Werden wir je andere Kinder bekommen können? Wird es klappen? Wie soll ich denn überhaupt wieder schwanger werden, wenn in mir so viel Schmerz und so viel Angst sitzen? Werde ich jemals wieder unbeschwert lachen können? Jemals wieder mich ganz hingeben und unsere Sexualität genießen können wie früher?“

Der Mann seinerseits versuchte, nach außen hin ruhig und stark zu sein, seine Frau nicht noch mehr zu belasten, doch innerlich kreisten auch seine Gedanken um die Frage, ob es wirklich gut wäre, wie so manche Freunde und Bekannte rieten, es so schnell als möglich noch einmal zu versuchen, damit die Freude über ein neues Kind die Trauer um das Nichtgeborene aus ihren Herzen vertreiben könne. Auch die bange Frage, wie seine Frau sich jetzt vielleicht verändern würde, ob er der Situation gewachsen und ihr eine Stütze in den Momenten sein könne, in denen die Verzweiflung sie ganz offensichtlich wieder einholte. Wie sollte es weitergehen?

Immer wieder gab es lange Momente des Schweigens zwischen ihnen…

Nach etlichen Monaten kamen sie überein, sich doch wieder auf eine Schwangerschaft einzulassen, aber es wollte nicht klappen. Und so gesellte sich zur Trauer über den ersten Verlust die steigende Spannung und Unruhe des unerfüllten Kinderwunsches.

Schließlich kam für die Frau der Punkt, an dem ihr klar war, dass sie Hilfe von außen brauchte, wenn sie nicht ihre psychische und körperliche Gesundheit und ihre Beziehung aufs Spiel setzen wollte.

In der ersten Beratungsstunde brach nach kurzer Zeit der ganze verhaltene Schmerz aufs Neue hervor und auch ihr quälendes Gefühl der Schuld ihrem ungeborenen Sohn gegenüber. Der unbewusste Satz war: „Ich bin es nicht wert, Mutter zu sein. Ich habe es nicht verdient, noch einmal ein Kind zu tragen und es gesund zur Welt zu bringen.“

Dass mit dieser Botschaft ihr Körper auch wenig Chancen hatte, sich neuerlich zu öffnen und ein Kind zu empfangen, schien klar.

Damit das Leben und die Liebe wieder fließen

Als ich ein buntes Kissen als Symbol für ihr nicht geborenes Kind vor sie auf den Boden legte, presste sich die Frau angespannt in ihren Stuhl und wandte den Blick erschrocken zur Seite. „Ich kann ihm nicht in die Augen schauen! Ich habe kein Recht dazu, ich habe es doch entschieden!“ Doch solange die Trauer um den Tod nicht erlaubt war, konnte auch das Leben nicht wieder fließen.

Wortlos stellte ich noch einen leeren Stuhl hinter den ihren. Dabei verband ich mich innerlich mit der Mutter der Klientin und mit all den anderen Frauen, die vor ihr Mütter geworden waren. Mit jenen, die ihre Kinder gesund zur Welt bringen und großziehen konnten, und mit denen, die so wie sie Kinder auf die eine oder andere Art verloren hatten. Bei dieser Vorstellung erfüllte mich tiefes Mitgefühl und Achtung für sie alle: jede von ihnen hatte auf ihre Art das Bestmögliche getan, jede hatte auf ihre Art die Folgen ihrer Entscheidungen getragen, jede hatte auf ihre Art ihr Schicksal gemeistert. Mit diesem Bild im Herzen lud ich auch die Klientin ein, sich die vielen Frauen ihrer Familie zu vergegenwärtigen – die, die noch lebten und die sie kannte, und jene, die sie vielleicht nie kennen gelernt hatte, die aber in ihr immer noch da waren. Sie konnte spüren, wie in dieser langen Reihe von Frauen über die Zeit hinweg alles schon einmal da gewesen war: das Glückliche und das Leichte genauso wie das Leid und das Schwere. Sie kam auch in Kontakt mit den Frauen, die immer wieder über Leben oder Tod hatten entscheiden müssen. In dieser Visualisation konnte sie erleben, wie alle diese Frauen sie in der Tiefe verstehen und in ihrem Kreis ohne Urteil annehmen konnten.

In dem Maße, wie das Gefühl der Zugehörigkeit und des Gehalten-Seins sich in ihr ausbreitete, war auch die Entspannung in ihrem Körper und in ihren Zügen deutlich wahrnehmbar. Als sie nach einer langen Weile des tröstlichen Verweilens in dieser Geborgenheit wieder die Augen öffnete, fiel ihr Blick auf das Kissen vor ihr. Diesmal konnte sie das symbolische Bild ihres kleinen Sohnes aushalten und dann sogar ihre Arme öffnen, um ihn an ihre Brust zu drücken und ins Herz zu nehmen.

Diesmal waren ihre Tränen befreiend.

In der folgenden Zeit arbeiteten wir noch zu vielen anderen Themen weiter, doch der wesentliche Impuls, der den unterbrochenen Fluss der Liebe und der Lebensenergie wieder in Gang gesetzt hatte, war wohl der erste gewesen.

Als wir uns nach sechs Monaten zu unserer abschließenden Sitzung trafen, brachte die Klientin ein ganz besonderes Geschenk mit. Es war ihr Satz: „Ich bin wieder schwanger!“ Und ein Jahr später bekam ich ein wunderbares Foto ihres zweiten Sohnes…

Wenn Schwangerschaft nie ein Traum war

Vielleicht werden sich jetzt einige fragen: „Und was ist mit den Anderen? Mit den Frauen, die ungewollt schwanger werden, manchmal sogar unter sehr traurigen oder unwürdigen Umständen, mit denen, die keinen Partner an ihrer Seite haben, der sie achtet und unterstützt, für die eine Abtreibung die Lösung eines ernsten Problems ist?“

Ja, wir alle wissen, dass es unzählige Frauen gibt, die nicht nur einmal sondern sogar mehrmals in ihrem Leben vor der Entscheidung stehen, ein Kind nicht zur Welt kommen zu lassen.

Ich gehe davon aus, dass dieser Schritt, selbst wenn die Schwangerschaft nicht gewollt ist, für die meisten Frauen kein leichter ist und dass er Folgen hat, die manchmal erst nach geraumer Zeit an die Oberfläche kommen.

Auch dazu möchte ich die Geschichte einer Klientin erzählen.

„Bitte nimm mich an mit allem!“

Diese Frau meldete sich zu einem Aufstellungsseminar an, weil keine ihrer bisherigen Partnerschaften von Dauer gewesen war. Obwohl sie schon lange auf der Suche nach dem „Richtigen“ war, ging eine Beziehung nach der anderen über kurz oder lang wieder in die Brüche, und so erschien auch ihr Wunsch, Mutter zu werden, aufgrund ihres Alters immer unrealistischer.

Für die Aufstellung bat ich sie, drei Stellvertreter auszuwählen: eine Person für ihren Fokus (d.h. für jenen inneren Anteil, der in diesem Fall auf das Thema Paarbeziehung schaut), für ihr Ziel (d.h. eine glückliche, dauerhafte Paarbeziehung) und für das, was ihrem Wunsch im Wege stand. Die Klientin wählte eine Frau für ihren eigenen Fokus, einen Mann für ihr Ziel und nochmals eine Frau für das Hindernis und stellte sie in einer Diagonale im Raum auf: ihren Fokus zum Ziel gewandt, das Hindernis schräg hinter dem Fokus, in dieselbe Richtung orientiert, aber mit dem Blick zum Boden.

Nachdem die drei Stellvertreter sich Zeit genommen hatten, mit ihrer Wahrnehmung in Kontakt zu kommen, wandte sie der Fokus um und blickte mit offensichtlichem Interesse auf das Hindernis. Dieses jedoch hielt den Blick auf den Boden gerichtet und begann immer mehr in sich zusammen zu sinken.

Als ich die Klientin fragte, wie es ihr denn gehe beim Anblick dieses Bildes, stiegen ihr die Tränen in die Augen und es fehlten die Worte. Eine große Trauer war spürbar, sowohl bei der Klientin als auch bei der Repräsentantin, die in der Zwischenzeit auf die Knie gegangen war und den Kopf auf dem Boden in ihren Armen vergrub. Als ich diese meine Wahrnehmung aussprach, nickte die Klientin, und als ich weiter fragte, wo in der Vergangenheit es denn ein Ereignis gegeben hätte, zu dem dieses intensive Gefühl passen könnte, sagte sie nur leise: „Damals, als ich 18 war.“

Wie sich herausstellte, war die junge Frau damals bei einer Begegnung in einer einzigen Nacht unerwartet schwanger geworden. Das Kind zu bekommen, war für sie unvorstellbar. Der Vater des Kindes stand nicht zur Verfügung, sie selbst lebte noch bei ihren Eltern, denen sie aber die „Schande“ nicht antun wollte. Also macht sie sich allein auf den Weg in eine Abtreibungsklinik – nach zwei Wochen war es, als ob nie etwas geschehen wäre…

Diese Information ließ mich vermuten, dass das sogenannte „Hindernis“ in der Aufstellung jener jugendliche Anteil der Frau war, der damals in Schreck, Scham, Trauer und vielleicht auch Reue erstarrt war und immer noch darauf wartete, wahrgenommen und wieder ins Leben zurück geholt zu werden. Genauso wahrscheinlich war wohl auch das abgetriebene Kind nie wirklich gesehen und angenommen worden.

Also bat ich noch eine Repräsentantin, sich als abgetriebenes Kind vor das „Hindernis“ auf dem Boden zu setzten, mit dem Blick zu ihr.

Dann bat ich die Klientin, von ihrem Stuhl aus liebevoll auf die beiden zu schauen, auf das nicht geborene Kind und auf die junge Frau. Als erwachsene Frau und aus der Distanz der Jahre, die zwischen ihnen lagen, konnte sie das aussprechen, was wirklich war: „Du warst ganz allein. Und es war schwer, sehr schwer. Ich weiß genau, wie es war. Und immer wieder hat es später noch wehgetan, und du hast dich gefragt, wie es weiter gegangen wäre, wenn dein Kind doch gelebt hätte.

Damals warst du allein, aber jetzt bin ich da. Jetzt bin ich 34. Und ich schaue gut auf euch beide.“

Bei diesen Worten hatte die Repräsentantin des Fokus sich langsam in Bewegung gesetzt und stand nun ganz nahe bei der jungen Frau und ihrem nicht geborenen Kind.

Also bat ich sie, von dort aus zum Mann zu schauen, der eine gelungene Paarbeziehung repräsentierte, und ihm zu sagen: „Schau, das bin ich und das ist meine Geschichte. Bitte nimm mich an mit allem!“

Ein tiefer Seufzer der Klientin war die zustimmende Antwort.

Heilsame Grundhaltungen

Ich denke, wann immer wir es als BeraterInnen oder TherapeutInnen mit solchen Lebensgeschichten zu tun haben, ist das Erste das von uns gefordert ist, Respekt.

Denn in der therapeutischen Arbeit geht es nicht um moralische Urteile, sondern darum, hinzuschauen auf das, was weiterhilft.

Von Bert Hellinger, dessen Bücher ich übersetzen durfte, habe ich gelernt, darauf zu achten, was bestimmte Worte und Gedanken bewirken: ob sie schwächen und lähmen oder ob sie stärken und uns zum Handeln befähigen. Das ist für mich zu einem grundlegenden Kriterium in der Arbeit mit anderen Menschen geworden.

Helfen bedeutet für mich daher, Menschen so zu unterstützen, dass sie wieder Zugang zu ihrer eigenen Stärke finden und selbst aktiv werden können.

Immer wieder kann ich in der Arbeit mit Frauen miterleben, wie sehr es sie berührt und erleichtert, wenn sie merken, dass es in der Beratung einzig und allein darum geht, sie dabei zu unterstützen, wieder „ganz“ zu werden. Dass eine Beraterin oder Therapeutin keine Richterin ist, die über Gut und Böse, Unschuld und Schuld zu entscheiden und ein Strafausmaß festzusetzen hat. Dass sie hier Raum und Zeit finden, um jene Anteile ihrer Seele wieder zurück zu gewinnen, die ihnen in den Momenten großer Überforderung, intensiven Schmerzes oder emotionalen Abgeschnitten-Seins verloren gegangen sind oder sich zurückgezogen haben.

Diese Vorstellung, dass bei traumatischen Erlebnissen Teile unserer Seele verloren gehen, sich dissoziieren und sozusagen „in Sicherheit bringen“, ist ja eine uralte Erkenntnis, die auch in vielen indigenen Kulturen bekannt ist. Ein Gutteil der schamanischen Arbeit der verschiedensten Traditionen hat zum Ziel, diese Seelensplitter wieder zurück zu holen und zu integrieren.

In der Aufstellungsarbeit wiederum erfahren wir täglich, dass erst dann Frieden in einem System einkehren kann, wenn alle, die dazu gehören, einen guten Platz bekommen haben.

Das heißt, auch hier geht es darum, Vergessene und Ausgeschlossene wieder herein zu holen.

Wenn ich diese Gedanken weiterführe, so kann ich auf unser Thema bezogen sagen, dass heil werden bedeutet, alle die vielen Frauengestalten, die ich bin, alle hellen und alle dunklen, wieder zu vereinen. Die, auf die ich stolz bin, und die, die ich bisher lieber verbergen hätte wollen. Sie alle sollen in meinem Herzen einen guten Platz bekommen.

Und natürlich bedeutet es auch, allen unseren Kindern den ihnen zustehenden Platz zu geben: denen, die wir geboren haben, und denen, die wir nicht geborenen haben; denen, die am Leben sind, und jenen, die nicht mehr am Leben sind.

Und es bedeutet auch, den Vätern dieser Kinder einen Platz zu geben. Über dieses Leben, das da entstanden ist, sind wir ja verbunden, unabhängig davon, ob wir für einander noch Zuneigung empfinden oder nicht.

Ein milder Blick und ein offenes Herz

Wie kann ich also Frauen helfen, auf diese Art und Weise wieder milde auf sich selbst und andere zu blicken und ihr Herz zu öffnen?

Manchmal hilft schon ein Gespräch, in dem sie weder verurteilt noch bemitleidet werden. Denn Urteile schaffen Schuldgefühle und trennen, und Mitleid lähmt. Wirkliches Mitgefühl jedoch sieht die Andere in ihrer ganzen Größe und Würde und traut ihr die Fähigkeit zu, ihr Leben auch mit seinen Schicksalsschlägen zu meistern.

Manchmal aber braucht es nicht nur einen Menschen, sondern die Hilfe einer ganzen Gruppe. Die Energie, die entsteht, wenn mehrere Frauen sich in einem Kreis zusammenfinden mit der Absicht, schwesterlich und mütterlich für einander da zu sein.

So wie Jean Shinoda Bolen, eine amerikanische Psychotherapeutin, es ausdrückt: „Der Kreis ist eine archetypische Form, die der Psyche der meisten Frauen vertraut ist, denn er erlaubt Beziehungen, die persönlich und gleichrangig sind.“

Genau das ist es auch, was ich immer wieder erlebt habe, wenn ich mit Frauen in Gruppen gearbeitet habe. Wie Frauen sich spontan erheben, um einen schützenden Kreis zu bilden um eine von ihnen, die gerade einen besonderen Schmerz wiedererlebt.  Wie sie mit ihrem Mitgefühl und ihrer Wärme diese Frau halten und tragen, ganz ohne Worte. Wie dieser Kreis nach einiger Zeit beginnt, sich zu wiegen und manchmal sogar spontan ein Wiegenlied ganz leise gesummt wird – unendlich beruhigend, unendlich tröstend. Und wie am Ende wir alle gestärkt und dankbar aus dieser Erfahrung herausgehen.

Dieses Bild des Kreises möchte ich auch hier an das Ende dieser Gedanken stellen, damit es uns allen eindrücklich bleibt und uns noch eine Zeit lang begleiten kann. Doch wenn Sie es mir erlauben, so würde ich es gerne noch erweitern.

Denn ich stelle mir die wohlwollende Präsenz der Männer vor, die aus der Nähe oder aus der Ferne die Frauen begleiten. Ich stelle mir vor, wie das Männliche das Weibliche schützend umschließt, sodass zwei konzentrische Kreise entstehen, die gemeinsam eine kostbare Mitte schützen: den Raum, in dem das Leben wachsen darf.